Britania rules the waves in 1/350

Seiner königlichen Majestät Schiff Victory, Stolz der Georgianischen Marine seit 1756. Das älteste, heute noch in Dienst stehende Kriegsschiff der Welt. Flaggschiff einiger ruhmreicher britischer Admirale. Zigmal umgebaut, außer Dienst genommen, wieder in Dienst gestellt, Schlachten geschlagen, fast als Gefangenenhulk geendet, degradiert als Linienschiff zweiter Klasse, verrottet, fast gesunken, gerettet und endlich als Museum in Portsmouth zu besichtigen. Gegen Franzosen, Spanier, Russen und 1941 gegen die deutsche Luftwaffe bestanden. Abgebildet in unzähligen Modellen, Bildern, Berichten und Artikeln. Was soll man zu diesem Schiff noch sagen?

Das Modell

Als Basis meiner Victory kam der Kartonmodellbogen des polnischen Verlages Maly Modelarz zum Zuge. Der Abgleich zwischen dem Bogen und meinen Unterlagen ergab, dass Formen und Proportionen darin gut passten. Der Bogen ist Maßstab 1/200 gezeichnet und kostet rund 10 Euro. Ein denkbar günstiger Preis für solch einen Bausatz! Da ich es gerne kleinmaßstäblich habe, skalierte ich die Bauteile auf 1/350. Der Bauplan mit den kompletten Segler passte damit handlich auf ein A4-Blatt. Die Teile des Bogens sollten nur die Grundlage zur Teileherstellung bilden. Viel wurde in Eigenarbeit hinzugefügt. Das aller meiste aus Papier und Karton. Federstahldraht kam zur Verstärkung der Masten und Rahen hinzu, Balsaholz stabilisierte das Spantengerippe vom Rumpf. Zu solch einem beliebten Schiff wie der Victory gibt es neben vielen Publikationen heute vor allem sehr viele Internetbeiträge zum Original und zum Modellnachbau. Aufgeschlagene Bücher und der laufende Laptop waren also ständige Begleiter bei der Hobbyarbeit.


Erfahrungsgemäß sinkt bei fortschreitendem Modellbau meine Motivation und damit auch das Interesse am Schiff. Wenn alles soweit getan ist, das Schiff im Großen und Ganzen steht und nur noch Kleinigkeiten zur Fertigstellung zu machen sind, ist die Gefahr der Nachlässigkeit hoch. Um das zu vermeiden, habe ich mit den Dingen begonnen, die eigentlich am Ende des Modellbaus an der Reihe sind: Masten, Rahen, Beiboote, Anker und viele andere Ausrüstungsteile. Der Rumpf sollte später an die Reihe kommen und mit den vorgefertigten Teilen ausgestattet werden. Ich rechnete mir ferner aus, dass mit dieser Strategie die Schwelle für ein möglicher Bauabbruch sehr hoch liegen würde. Damit wären ja dann auch die mühevoll gemachten Bauteile wertlos! Ich habe durchgehalten und nach Anderthalb Jahren meinen Victory vollendet.


Als Darstellungszustand des Modells habe ich den »Portsmouth-Zustand« als Museumsschiff ohne Segel aus den 1960ern gewählt. Die Leesegelspieren und die Kreuzbramstenge in Braun sind u.a. kennzeichnend dafür. Diesen Zustand zeigen die meisten der Victory-Modelle. Einzelne Details konnte und wollte ich aber nicht weglassen: Reservespieren oder Ankerbojen gehören dazu. Diese Ausrüstungsteile führt die Victory in Portsmouth zum Beispiel nicht, sie gehören aber zu einem seefähigen Linienschiff erster Klasse.


Es gibt interessante und inspiriernde Disskussionen um den Zustand des Schiffes während der Trafalgarschlacht am 21. Oktober 1805. Interessanterweise ist dieser Zeitraum im Lebenslauf der Victory am schlechtesten dokumentiert. 1803 fand eine umfangreiche Reparatur statt, die eher einem Neuaufbau des Dreideckers gleichkam. Vor Trafalgar hatte das Schiff mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit erhöhte, feste Schanzkleider vorn und achtern. Die Seitenpforten waren durch weitere Geschützpforten ersetzt, das Galion war sicherlich deutlich bulliger und massiver ausgebaut und auch die Heckgestaltung war in einigen Punkten anders ausgeführt als es seit 1922 in Portmouth zu sehen ist. Hinzu kommen noch zig weitere Dinge, um die spannende Disskussionen laufen. Aus den vielen Erscheinungsbildern der Victory kann sich der Modellbauer also das für ihn passende heraussuchen. Ich habe mich schließlich für den allgemein bekannten Zustand des Schiffes entschieden, wie er seit rund 100 Jahren mehr oder weniger in Portsmouth zu sehen ist. Wobei auch das schon wieder nicht stimmt, da das Farbschema des Rumpfes aktuell neu belegt wurde und weitere Details im Laufe der Jahre neuen Forschungsständen angepasst wurden. Die Victory, so oft gesehen und darüber gehört, bleibt also spannend und voller Geheimnisse.

 


Klaus Lingenauber